Deutschen und der FußballFür alle und keinen
Herzlich willkommen im Land des kultivierten Fußballfanatismus: Wie der Fußball in Deutschland auf geradezu erstaunliche Weise ein Phänomen weit über das eigentliche Spiel hinaus wurde.
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Harry Kane lebte Ende Januar 2024 schon ein halbes Jahr in München und hatte bereits 23 Bundesligatore erzielt, als er den deutschen Fußballsport richtig kennenlernte. Er kam nach Kirchweidach.
EURO 2024 – Ein Reiseführer durch die deutsche Fußballkultur
Dieser Text stammt aus dem Reiseführer durch die deutsche Fußballkultur, den wir gemeinsam mit der DFB-Kulturstiftung erstellt haben. Dieser sucht abseits der zehn EURO-Stadien nach Menschen und Geschichten, die erzählen, wie der Fußball hierzulande gelebt wird. Europäische Künstler und Kulturschaffende werfen einen persönlichen Blick auf Deutschland als Fußball-Land. In Partnerschaft mit der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS) und vielen weiteren Institutionen aus Fußball und Kultur wird das handliche Taschenbuch während des Turnies dort ausliegen, wo sich die nationalen und internationalen Fans treffen: in den zehn Host Cities, den Fanbotschaften, im Rahmen des EURO-Kunst- & Kulturprogramms oder am Rand der EURO-Stadien. Außerdem kann es ab sofort online über den Shop der Bundeszentrale für politische Bildung gegen eine geringe Bereitstellungspauschale (€ 1,50 zzgl. Versandkosten) bestellt werden.
Das Land ist flach und voller Felder rund um Kirchweidach, am Horizont dagegen erheben sich majestätisch die Alpengipfel. Bei der letzten Kommunalwahl erhielt die Christlich-Soziale Union (CSU) 78,7 Prozent der Stimmen. Eine bayerische Blaskapelle spielte auf, als Harry Kane vor dem Gasthof zur Post aus dem Auto stieg. Drinnen im Saal warteten die 400 Glücklichen, die eine Eintrittskarte für das Treffen mit Kane erhalten hatten. Praktisch alle waren in roten Nylontrikots des FC Bayern gekleidet. Weißbier wurde ausgeschenkt. Es war ja schon elf Uhr am Sonntagmorgen. „Hattest du schon mal von Kirchweidach gehört?“, fragte der Moderator Harry Kane, den in der ganzen Welt berühmten Mittelstürmer aus Nordost-London. „Äh, nein“, sagte Kane. Das Publikum brüllte vor Lachen. Einmal im Jahr schickt der FC Bayern München seine Profifußballer zu den Fanclubs im ganzen Land, und Die Roten aus dem oberbayerischen Dorf Kirchweidach haben 2024 den Hauptgewinn gezogen: Zu ihnen wurde die größte Attraktion der Bundesliga gesandt, der 100-Millionen-Mann des FC Bayern. Sie baten Harry Kane im Gasthofsaal zu einem Wettkampf namens Bierkrugschieben, eine Art Curling mit vollem Bierglas über eine Holzbahn. Danach musste er Fragen beantworten wie jene nach seinem Lieblingstier. „Der Löwe“, sagte Kane, dachte wohl an das Wappentier seiner englischen Nationalelf und zuckte zusammen, als ihm Buhrufe entgegenschlugen. Hastig flüsterte der Übersetzer ihm ins Ohr, wer die Löwen im Münchener Fußball sind, und Harry Kane korrigierte sich schnell: „Ein Hund! Ein Hund ist mein Lieblingstier.“
So vergingen zwei Stunden. Als unmittelbar nach der Veranstaltung der englische Fußballreporter Rob Draper von der Zeitung The Guardian im Gasthof zur Post für ein Interview auf Kane zukam, meinte Draper in der Körpersprache des englischen Fußballstars eine Art Erleichterung zu erkennen: Ein Landsmann! Endlich wieder vertrautes Terrain! Sie redeten erst einmal über Cricket; Englands aktuelles Testmatch in Indien.
Manchmal muss jemand von außen kommen, um uns daran zu erinnern, wie wir sind
„Das war ja verrückt!“, sagte Kane später im Interview zu Draper über das Treffen mit dem Fanclub, und es bestand kein Zweifel, dass er das in einem positiven Sinne meinte: herrlich irre. „So etwas hatte ich noch nie erlebt“, in 13 Jahren als Profifußballer in England. Dort waren die Fans eine Kulisse im Stadion. In Deutschland, lernte er in Kirchweidach, sind sie ein Teil des Vereins. „Dies ist ein Klub, der den Mitgliedern gehört und nicht einem Staatsfonds oder privaten Investor“, schrieb Draper später über den FC Bayern. „Hier, in Kirchweidach, kann man sehen, was das für einen Unterschied ausmacht: Der Kontrast zu englischen Klubs könnte nicht stärker sein.“
Manchmal muss jemand von außen kommen, um uns daran zu erinnern, wie wir sind. Welchen Stellenwert der Fußball in der deutschen Gesellschaft besitzt, wie gut er immer noch Unternehmertum und Gemeinwesen unter einen Hut bringt, sehen wir selbst oft nicht so klar wie ein Engländer, der zu Besuch kommt.
Gerade in jüngster Zeit haben die Zankerei um den Einstieg eines Finanzinvestors in die Deutsche Fußball Liga und die Misserfolge der Nationalmannschaft den Eindruck erweckt, der Fußballsport in Deutschland stecke in dramatischen Schwierigkeiten. Doch wer mit ruhigem Blick hinter die Aufregungen der Aktualität schaut, kann erkennen, dass der Fußball in Deutschland auf geradezu erstaunliche Weise ein Phänomen weit über das eigentliche Spiel hinaus wurde.
Die Bundesliga ist (auch ohne Investor) wirtschaftlich hinter der Premier League die zweitstärkste nationale Fußball-Liga der Welt und die Bundesliga gleichzeitig die emotionale Heimat für Hunderttausende Fans, die das Diktat des Turbokapitalismus bekämpfen. Fußball spielen und schauen Menschen allen Alters und aller Schichten, sehr oft über die gesellschaftlichen Unterschiede hinweg zusammen. Die zehn Sendungen mit den meisten Zuschauern in der Geschichte des deutschen Fernsehens waren Fußballspiele. Der Deutsche Fußball-Verband vertritt – weit vor Chorsängern, Kleingärtnern oder politischen Parteien – mit 7,3 Millionen Mitgliedern die größte Sammelbewegung des Landes. Mit Fußball wird in Deutschland Kultur- und Sozialarbeit gemacht. Leidenschaft für den Fußball wird klischeehaft mit Fans verbunden, die bei Niederlagen Tomaten auf die Spieler werfen, aber ich frage mich: Ist es nicht fanatischer, was in Deutschland geschieht? Nach dem Europapokalgewinn von Eintracht Frankfurt 2022 brachte ein Orchester namens „Der lyrische Sturm“ den Endspielsieg als Oper auf die Bühne, Una notte in Siviglia. Wer beim Eintritt ein Fanlied der Eintracht vorsang, durfte zum halben Preis in die Oper.
In diesem Land des kultivierten Fußballfanatismus wurde die Nationalmannschaft zu einer Art Seismograph.
In diesem Land des kultivierten Fußballfanatismus wurde die Nationalmannschaft zu einer Art Seismograph für die nationale Stimmung. Instinktiv denken die meisten dabei wohl zuerst an die WM 2006 in Deutschland, als „ein gut gelaunter Fußballnationalismus“ ausbrach, wie der Historiker Kay Schiller schreibt. Ein Gefühl entstand in jenen WM-Tagen, bestärkt vom enthusiastischen Spielstil der Nationalelf, aber natürlich auch politisch gefördert und instrumentalisiert durch Kampagnen wie „Die Welt zu Gast bei Freunden“. Wir sind ja doch fröhlich und cool, sagte das Gefühl. Heute kann man im Rückblick feststellen, dass jenes Jahrzehnt, das 2006 begann, fußballerisch wie gesellschaftlich ein besonderes war: Optimismus hatte die Oberhand in Deutschland. Heute meinen viele, dass Optimismus, fußballerisch wie politisch, auch zu Sorglosigkeit führt.
Seit 2019 schauten in der Spitze nur noch halb so viele Deutsche die WM- und EM-Spiele der Nationalelf wie im Jahrzehnt davor; in manchen Jahren schauten sogar mehr Menschen den „Tatort“ aus Münster als WM-Spiele in Katar. Das liegt nicht nur am Liebeskummer, den die Nationalelf vielen Deutschen in jenen Jahren bereitete. In Pandemie- und Kriegszeiten, mitten in Europa, in Zeiten, in denen eine aggressiv-destruktive politische Kraft wie die AfD den öffentlichen Ton mitbestimmt, wirkt Fußball auf viele plötzlich wieder banal. Doch unter der Oberfläche hat der Fußball in Deutschland wenig von seiner integrativen Kraft verloren. Bis hinunter in die Regionalliga stellen Vereine permanent Zuschauerrekorde auf, 27.000 bei einem viertklassigen Spiel in Aachen, 9.600 in Meppen. Das Gefühl dazuzugehören wird gerade nicht mehr auf nationaler, aber auf lokaler Ebene über den Fußball ausgelebt. Ich bin überzeugt, es bräuchte nur ein, zwei mitreißende Spiele der deutschen Auswahl bei der EM 2024, und der Seismograph Nationalelf würde wieder hoch ausschlagen. Wenn das bloß so einfach wäre mit den ein, zwei mitreißenden Spielen.
„Der Fußball gehört den Fans“, ist ein Kampfslogan der organisierten deutschen Fußballanhänger. Ich bin der Meinung, der Fußball gehört niemandem. Das macht seine Anziehungskraft aus. Egal, was einer im Fußball sucht – ein Spiel zum Selberspielen oder zum Geldvermehren, einen Ort, um eine Gemeinschaft zu finden, um sich sozial zu engagieren, um der Wirklichkeit zu entfliehen oder sich bloß die Zeit zu vertreiben –, egal, was einer in diesem Spiel sucht, er wird es in Deutschland im Fußball finden.
Die Turbokommerzialisierung des Profispiels, die von Fans oft verteufelt wird, hat in Deutschland tatsächlich viele einzigartige gesellschaftliche Projekte des Fußballs möglich gemacht. Es ist das Geld des Profibetriebs, das direkt oder indirekt all das finanziert, was wir heute „Fußballkultur“ nennen. Vor 30 Jahren wäre das Wort allein schon als unmöglich aufgefasst worden. Kultur war doch das Gegenteil von Fußball! Der Sportchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karlheinz Vogel, entschuldigte sich vor der WM 1974 bei seinen Lesern vorab für den Frevel, dass sie während der Weltmeisterschaft ungewöhnlich viel über Fußball berichten würden. Diese Entscheidung sei der Redaktion „nicht leichtgefallen“. Heute finanziert zum Beispiel Eintracht Frankfurt ein Museum, in dem die Leiter Matthias Thoma und Frauke König über den Fußball Geschichte lehren oder Berührungsängste zu Themen wie Depression nehmen. Und als der VfL Bochum im Sommer 2023 sein Trainingslager in Südtirol aufschlug, liefen nicht nur Profis über den Rasenplatz, sondern auch eine Gruppe Bochumer Jugendlicher aus bedürftigen Familien durch die Berge. Das Fanprojekt Bochum hatte den Teenagern die Reise zum Trainingslager ermöglicht. Mit der Förderung von Fußball-Bund und Fußball-Liga entstanden 71 solche Fanprojekte im Land. Bei der Wanderung durch die Berge sollten die Bochumer Teenager selbst den Weg finden, um Eigenverantwortung zu trainieren, hatte sich der Fanprojektleiter Florian Kovatsch ausgedacht. Das Ziel war, zum Morgentraining des VfL den Sportplatz in Gais zu erreichen. Die Teenager kamen zur Nachmittagseinheit an.
Der Fußball in Deutschland existiert gleichzeitig als kapitalistischer Wirtschaftsbetrieb und gemeinnütziger Sinnstifter.
Tausende solcher Beispiele ließen sich erzählen und also davon, wie der Fußball in Deutschland gleichzeitig als kapitalistischer Wirtschaftsbetrieb und gemeinnütziger Sinnstifter existiert. Manchmal treffen die verschiedenen Welten sogar immer noch aufeinander. So wie Harry Kane in Kirchweidach. Einen Nagel-Einschlagen-Wettbewerb musste der Torschützenkönig der Weltmeisterschaft 2018 dort auch noch überstehen. Er hielt den Hammer in der Hand, als habe er so ein Werkzeug noch nicht oft benutzt. Leider verbog sich der Nagel, den er in einen Baumstumpf hämmern sollte, auch schnell unter seinen Schlägen.
Als er abreiste, wirkte Harry Kane auf seinen Landsmann, den Reporter Draper, wie ein Mann, der Kirchweidach als besondere Eigenart des deutschen Fußballs in bester Erinnerung behalten wird. Der nächste Halt wird dann wieder gewöhnlicher. Mit der englischen Nationalelf wohnt Harry Kane während der Europameisterschaft 2024 in Blankenhain, Thüringen. Dort ist die Attraktion ein Golfplatz