Das Spiel ist schon lange vorbei, aber die acht jungen Männer hinter dem East End wollen einfach nicht gehen. Sie blicken sehnsüchtig über den Rasen. Hinter der massiven Haupttribüne, diesem Riesending aus Wellblech und Stahlrohren, Beton und Holz, geht die Sonne unter, neben der Gegengerade sieht man die Kräne der Docks, wo vor über 100 Jahren die Titanic gebaut wurde. Das ganze Bild ist so kitschig, dass man sofort an einen dieser nachdenklichen Postkartensprüche in Schreibschrift denken muss: „1 Reise ist 1 Trunk aus der Quelle des Lebens“, oder natürlich an Leonardo Di Caprio, Kate Winslet und Céline Dion: My heart will go on. Einer der Männer neigt den Kopf zur Seite und lehnt sich an einen steinernen Wellenbrecher. „Ich könnte ewig hier stehen“, sagt er. Ein anderer pflichtet ihm bei: „Es ist so unperfekt, so wunderschön.“ Groundhopping ist kein Zuckerschlecken. Zumindest ist es kein Hobby für Fußballfans, die Spiele gerne in wohltemperierten Multiplexarenen sehen. Die meisten Stadionsammler sind auf der Suche nach dem Abseitigen und Absurden, nach krummen Tribünen und von Unkraut bewucherten Stehtraversen. Viele treibt bestimmt auch das an, was Jean Baudrillard in „Le Système des Objets“ als Vorliebe des Menschen nach dem Alten und Authentischen beschreibt, als eine Reise zum „Mythos des Ursprungs“. Die Geschmäcker sind natürlich verschieden, aber wenn man unter Fußballfans eine Umfrage nach den sehenswertesten Stadien der Welt machen würde, stünde vermutlich die Bombonera in Buenos Aires mit ihren steilen Tribünen auf Platz eins. Unter deutschen Hoppern hat das Kaffeetälchen in Thüringen einen Ruf als echte Perle. Das Estadio Mestalla in Valencia sollte man besucht haben, das Casablanca-Derby im Stade Mohamed V eh. Als eine Art blaue Mauritius unter den Stadionsammlern gilt aber The Oval in Belfast, erbaut 1882, Heimat des Glentoran FC. Die BBC nennt es den Heiligen Gral der Groundhopper. Aber warum eigentlich? Das Stadion liegt im protestantisch geprägten Osten der Stadt. An vielen Häusern der Gegend prangen großflächige Murals, die paramilitärischen Kämpfern des Nordirlandkonflikts huldigen. Es ist ein groteskes Nebeneinander, denn oft befinden sich nur wenige Meter neben den martialischen Wandmalereien Spielplätze und Familienhäuser aus rotem Klinker. Und dann plötzlich, am Ende des Parkgate Drive, steht man vor dem massiven grünen Eisentor des Oval.
Heute trifft Glentoran auf die Carrick
Rangers, ein normaler Ligakick, Fünfter gegen Achter, aber Paul Vance ist natürlich trotzdem hier. Der Glentoran- Fan hat weit über 500 Spiele im Oval gesehen, sein erstes Anfang der Siebziger, Europapokal gegen Ajax. Damals genossen Glentorans Fußballer in Europa zumindest Semiprominenz. Einmal erreichten sie das Viertelfinale des Pokalsiegercups, wo sie gegen Gladbach ausschieden. Juventus brachten sie an den Rand einer Niederlage, beim 0:1 verschossen sie einen Elfmeter. Legendär war aber vor allem das Spiel gegen Benfica, 40 000 Zuschauer sollen damals im Stadion gewesen sein, und weil die Plätze nicht ausreichten, drängten sie sich dicht an dicht auf dem Graswall oberhalb des East Ends. Glentoran führte bis kurz vor Schluss 1:0, dann glich Eusebio aus, Benfica kam dank der Auswärtstorregel weiter. „Ist schon komisch“, sagt Vance, „viele Dinge, auf die wir in Belfast stolz sind, haben ein tragisches Ende: die Titanic, Glentorans Europapokalspiele, George Best.“ Stimmt ja, Best! Der war als Kind großer Glentoran-Fan, mit seinem Großvater ging er oft ins Oval. Als er eines Tages bei einem Probetraining vorspielte, schickte ihn der Trainer aber wieder weg, Best sei zu schmächtig. Kurz darauf kickte er mit seinen Freunden auf einem Bolzplatz, ein Scout von Manchester United entdeckte ihn und schrieb prompt ein Telegram an seinen Chef Matt Busby: „I think I have found you a genius.“ Immerhin, Best lief später doch noch im Glentoran-Trikot auf, 1982 beim hundertjährigen Vereinsgeburtstag. Vance weiß natürlich um den Hype des Klubs und des Stadions. Jedes Wochenende begrüßt er Groundhopper aus aller Welt, oft sind es nervöse, mittelalte Männer, die wenig sagen und viele Fotos machen. Gestern war er selbst unterwegs, Larne gegen Cliftonville, zwanzig Meilen nördlich von Belfast. Auch da waren ein paar Hopper, aber Vance wusste sofort, dass Larne nur ein Vorspiel war, ein Appetitmacher auf das Oval am Samstag, dieses Stadion, das in den vergangenen Jahren zu einer Wallfahrtsstätte geworden ist, wie das CBGB für Punks, der Louvre für Kunstsammler, der Mount Everest für Bergsteiger. „Das Oval ist eine Zeitreise in die Vergangenheit“, sagt Vance. „Schau dich um, die einzige Modernisierung in den letzten 50 Jahren waren die Sitzplätze auf der Gegengerade.“ Und auch die hängen schief und quer, als hätte sie jemand mit ein paar Nägeln befestigt. Eine Stunde vor Anpfiff kommt John Moore dazu. Er ist Mitglied des
Vorstands und bietet heute eine Stadiontour an. Am Anfang hat er aber schlechte Nachrichten, zumindest für die Fußballromantiker. „Das Stadion wird bald umgebaut!“, sagt er. Es sei einfach zu teuer im Unterhalt und baufällig an einigen Stellen. In Deutschland würde der DFB hier nicht mal ein Landesligaspiel erlauben. Moore zieht die Schultern hoch, er sieht die Sache pragmatisch: „Das Stadion sieht aus der Ferne schön aus, aber aus der Nähe merkt man schnell, dass es ziemlich in die Jahre gekommen ist.“ Und genau das macht den Reiz für viele aus, denn der gemeine Groundhopper ist immer auch Hobbyarchäologe. Im Oval gibt es allerhand kleine Extras und Geheimnisse zu entdecken. Oberhalb des East End befindet sich eine Pillbox, ein kleiner Bunker, in dem Menschen 1941 beim Belfast-Blitz Schutz suchten. Die Haupttribüne wurde damals zerstört und in den Fünfzigern wieder aufgebaut. Sie bietet nur 2700 Zuschauern Platz, aber
sie wirkt gewaltig. Von der Seite sieht sie aus wie ein überdimensionierter Pacman, der bedrohlich weit nach vorne kippt. Sie ist, wie im Grunde das ganze Stadion, der ultimative Gegenentwurf zur Symmetrie und Perfektion der modernen Arenen, sie steht nicht mal mittig zum Spielfeld, sondern einige Meter versetzt. Während des Spiels steuern Flugzeuge so tief den George-Best-Airport an, dass man Sorge hat, sie würden gleich das Wellblechdach des Main Stands wegreißen. Wer aber die wahre Schönheit des Stadions erkennen will, muss ins Innere, in die Milchbar oder den Pub, wo sich Klublegende Johnny Jamison an das Euro-
papokalspiel gegen Gladbach erinnert: „Kennen Sie Stielike? Wahnsinn!“ Dann das Vorstandszimmer, ein Raum voller Memorabilia, der Trophäenschrank, in einigen Fluren hängen Holztafeln, die von großen Turnieren erzählen, etwa dem Vienna Cup, den Glentoran 1914 gewann. Kein Spieler war damals Profi, viele arbeiteten auf der nahegelegenen Werft, einige auch beim Bau der Titanic. Heute gegen Carrick sind 2100 Zuschauer gekommen, die meisten nehmen auf der Haupttribüne Platz. Am West End feuern Kinder mit Trommeln ihre Mannschaft an. Der Rest ist vollkommen pur. Keine Ansagen eines aufgeregten Stadionsprechers, keine Tormusik, keine Maskottchen, kein Event. Es fühlt sich an, als erhole sich der Fußball hier für 90 Minuten von der aufgeblasenen Industrie, zu der er mutiert ist. Nur auf dem Platz wird es zeitweise wild, Glentoran kassiert eine Rote Karte, Trainer Feeney eine weitere. Am Ende verliert Glentoran 2:3.
Aber wo sind nun die Groundhopper? Nach dem Spiel stolpert erst mal ein Ur-Belfaster, der sich als Noel Armour vorstellt, aus dem Stadionpub. „Noel wie Gallagher, Armour wie Panzer, verstehst du!“, sagt er. Und dann: „Das Stadion? Das ist fucking shit! Guck dir den Stacheldraht da am Eingang an, der ist noch aus dem Ersten Weltkrieg. Das ist doch nichts!“ Vermutlich ist es wie so oft: Die Aura der Dinge löst sich irgendwann auf, das Besondere geht verloren. Während der Tourist staunend vor unrenovierten Gründerzeithäusern steht, fragt sich der Bewohner irgendwann, ob eine Dreifachverglasung und eine funktionierende Heizung nicht doch ganz nett wären. Laut der App Futbology hatten heute zum Anpfiff 14 Hopper eingecheckt, und acht von ihnen stehen immer noch drüben auf dem Hügel hinter dem East End. Zum Beispiel Paul, 57, aus Liverpool. Er ist Fan der Tranmere Rovers und sieht aus wie eine Figur aus einem Nick-Hornby-Roman. Zum grünen Mod- Parka trägt er eine schwarze Hornbrille, in einer Plastiktüte hat er ein paar Schallplatten. „Die ganzen modernen Arenen sehen doch aus wie aus dem Katalog, alle identisch“, sagt er. The Oval hingegen quietsche und wackele, es stecke voller Mythen, und dann stehe jetzt also Belfast. „Das Oval ist eines der besten Stadien, das ich je gesehen habe, wenn nicht das beste“, sagt Olli. „Ich könnte ewig hier stehen.“ Aber das geht leider nicht, denn sie haben noch was vor, morgen geht’s früh nach Hause zurück, um 13 Uhr spielt Energie gegen Babelsberg im Stadion der Freundschaft, dem Heiligen Gral Brandenburgs. es auch noch in dieser spannungsgeladenen und politischen Stadt. „Ich darf nur niemandem hier erzählen, dass ich katholisch bin“, sagt er und lacht extra laut, weil das ja ein Scherz war. Ein paar Meter weiter sitzen vier Männer aus dem holländischen Tilburg, zwei sind Fans von Ajax, zwei von Willem II. Auch sie hat das Oval beeindruckt, mindestens Top 3 weltweit, sagen sie. Schon am Morgen seien sie gekommen, ein Mitarbeiter habe sie hineingewunken und ihnen eine spontane Führung gegeben. „In welcher Arena hast du so was?“, sagt Dan. „Dass sie dich nicht wegschicken, sondern freundlich hereinbitten – und ohne dass sie Geld von dir wollen!“ Und dann sind da noch drei Freunde aus Cottbus. Sie sind schon seit fünf Tagen unterwegs, waren bei Partick Thistle in Glasgow, bei Dundee, beim Bohemian FC in Dublin,