„IM TURNIER WAREN WIR IMMER DA“
Die deutsche Nationalmannschaft hat mehr als 1.000 Länderspiele absolviert. Keiner war an mehr Spielen beteiligt als Sepp Maier. Als Torwart (95) und Torwarttrainer (202) bringt er es auf 297 Einsätze, in 31 weiteren Spielen gehörte er zum Aufgebot. Wie so viele seiner Generation kann sich Maier (80) noch genau daran erinnern, wo er war an jenem Tag im Juli 1954, der für das ganze Land ein historischer wurde. Und der den Blick der Deutschen auf „ihre“ Mannschaft geprägt hat.
Herr Maier, Sie sind Deutschlands Jahrhunderttorwart, wurden Welt- und Europameister mit der deutschen Nationalmannschaft und waren für viele nachfolgende Generationen weltweit das Torhüter-Vorbild. Wer war Ihr Vorbild?
Zunächst, als ich 1958 zum FC Bayern kam, Lev Yashin, der Sowjetrusse. Als Zehnjähriger habe ich ihn erstmals bei der WM 1954 in der Schweiz gesehen – in unserem kleinen Kasten, dem Schwarz-Weiß-Fernseher, der bei uns zu Hause auf dem Küchenschrank stand.
Sie sind in Haar, im Münchner Osten, aufgewachsen. Waren die Maiers damals eine der wenigen Familien mit eigenem Fernseher?
Richtig, wir hatten das Gerät, weil mein Vater in einem Radiogeschäft gearbeitet hat. Unser Fernseher besaß jedoch nur einen Durchmesser von rund 20 Zentimetern. Das war uns jungen Burschen zu klein. Also sind mein älterer Bruder Horst und ich zum Elektrogeschäft meines Vaters gesaust. Dort stand ein riesiger Fernseher im Schaufenster, die Lautsprecher nach draußen gerichtet. Bei den deutschen Spielen der WM 1954 versammelte sich immer eine riesige Menschentraube. Wir haben uns immer mal zwischen den Erwachsenen durchgedrückt und kurz geschaut, wenn die Leute geschrien haben. Denn wichtiger war uns, auf der Wiese nebenan selbst zu kicken. Wir haben die Szenen nachgestellt. Nach dem Endspiel waren wir alle wahnsinnig stolz auf unsere frischgebackenen Weltmeister, haben uns narrisch gefreut über das Wunder von Bern.
Welche Auswirkungen hatten die WM 1954 und das Wunder von Bern auf Ihre Fußballbegeisterung?
Ich wollte immer schon Fußball spielen, vor allem in meinem Verein. Das war mir wichtig. Natürlich haben mir Spieler wie Fritz Walter, Horst Eckel und Torhüter Toni Turek imponiert. Wir hatten Hochachtung vor den Weltmeistern und Bundestrainer Sepp Herberger.
Wie haben Sie Deutschland und die Deutschen in dieser Zeit wahrgenommen?
Das Ende des Zweiten Weltkriegs war ja erst neun Jahre her, viele Städte lagen in Trümmern, der Wiederaufbau war eine Mammutaufgabe. Daher geriet der WM-Titel zum Lichtblick, wurde ein Stimmungsaufheller für die Menschen. Auch wenn ich als Zehnjähriger die gesellschaftliche Bedeutung noch nicht wirklich verstehen und die Folgen nicht absehen konnte. Aber als die Helden von Bern mit dem Zug in München angekommen sind und von Menschenmassen am Bahnhof und beim Autokorso durch die Stadt gefeiert wurden, habe ich ein paar Bilder davon im Fernsehen aufgeschnappt – das hat mich schon beeindruckt. An was ich mich noch gut erinnere: Unsere Lehrerin, ich war damals in der 4. Klasse, hat sich furchtbar darüber aufgeregt, dass einige der deutschen Fans bei der Siegerehrung nach dem Endspiel in Bern die Nationalhymne mit dem Text „Deutschland, Deutschland über alles“ gesungen haben. Das war auch ein Unding so kurz nach dem Krieg!
Wie sind Sie zum Fußball gekommen?
Ich war im Turn- und Sportverein Haar, habe ab dem fünften, sechsten Lebensjahr nur nebenbei ein bisschen gekickt. Als ich etwa zehn war, habe ich dann in der Schülermannschaft gespielt. Als Mittelstürmer oder rechter Außenläufer, wie man früher zu Flügelspielern gesagt hat. Ich bin lange nicht ins Tor, war bis zu meinem 14., 15. Lebensjahr Feldspieler. Weil unser Stammtorhüter eines Tages verletzt war, musste ich in der B-Jugend bei einem Pokalspiel ins Tor. Hat Spaß gemacht und scheinbar war ich ganz gut. Also blieb ich drin und wurde in die Jugendauswahl Oberbayerns berufen. Da hat mich jemand vom FC Bayern gesehen. 1959, mit 15, bin ich dann an die Säbener Straße gewechselt, habe in der ersten Jugendmannschaft der Bayern gespielt.
Wann hatten Sie Ihre ersten Berührungspunkte mit den Jugendauswahlmannschaften des DFB?
Helmut Schön war Assistent von Bundestrainer Sepp Herberger und hat bei Länderkämpfen immer wieder Talente gesucht. Ich erinnere mich an einen Lehrgang an der Sportschule Saarbrücken, da waren 44 Feldspieler und acht Torhüter aus ganz Deutschland eingeladen – und ich war einer derjenigen, den sie rausgefischt haben. 1961 war ich für die DFB-Jugendauswahl bei einem UEFA-Jugendturnier in Portugal dabei. 1962 dann in Rumänien. Ein Jahr später kam ich zur Nationalmannschaft der Amateure, wir haben um die Qualifikation für die Olympischen Spiele 1964 gespielt. Bei den Spielen in Tokio war ich aber dann nicht dabei, weil wir im Ausscheidungsspiel an der DDR gescheitert sind. Für mich war es das Größte, wenig später zur A-Nationalmannschaft zu kommen. Schön hatte Herberger inzwischen abgelöst.
Ihr erstes Länderspiel haben Sie im Mai 1966 beim 4:0-Erfolg gegen Irland in Dublin gemacht.
Ja, ich war die Nummer zwei hinter Hans Tilkowski von Borussia Dortmund. Mein Idol war damals der Engländer Gordon Banks …
… den Sie bei Ihrem ersten Turnier live sehen konnten. Als einer der Ersatztorhüter des DFB-Teams der WM 1966 in England.
Im Halbfinale sind wir in Liverpool auf die Sowjetunion getroffen. Der Franz (Beckenbauer, d. Red.) hat dem Yashin aus rund 22, 23 Metern mit links einen reingedonnert, halbhoch ins Torwarteck – zum 2:0. Als Yashin da nicht richtig hingehechtet ist und den Ball reingelassen hat, hab‘ ich mir gesagt: Der ist nicht mehr mein Vorbild – dann lieber Banks! Vor dem Finale gegen die Engländer in Wembley hatte sich unsere Nummer eins Tilkowski das Schultereckgelenk verletzt. Mit meinen erst 22 Jahren durfte ich mir Hoffnungen machen. Aber sie haben Tilkowski fit bekommen. Dennoch hatte ich mit Günter Bernard von Werder Bremen, dem zweiten Ersatztorhüter, eine super Zeit in England. Auf unserem Hotelgelände gab es ganz tolle Rasen-Tennisplätze. Wir haben uns im Supermarkt günstige Schläger und Bälle gekauft und los ging‘s. So habe ich mit dem Tennis angefangen. Wie die Wahnsinnigen sind wir nach den Bällen gehechtet, unsere weißen DFB-Trikots wurden ganz grün. Schon damals habe ich den Becker-Hecht gemacht, knapp 20 Jahre vor Boris in Wimbledon. Das war eigentlich meine Erfindung, es müsste also der Maier-Hecht heißen. (lacht)
1969 haben Sie sich dann, auch dank der ersten Titel mit dem FC Bayern München wie dem DFB-Pokalsieg 1966 und 1967 sowie dem Triumph im Europapokal der Pokalsieger 1967 als Nummer eins unter Schön etabliert. Ihr erstes Turnier als Stammtorhüter war die WM 1970 in Mexiko mit dem Jahrhundertspiel im Halbfinale gegen Italien. Haben Sie das 3:4-Drama eigentlich noch einmal auf Video oder DVD angeschaut?
Einmal habe ich mich getraut und die reguläre Spielzeit angeschaut, aber dann so geärgert über den Schiedsrichter, dass ich die Wiedergabe gestoppt habe. Dieser Arturo Yamasaki hat uns verpfiffen! Dessen Namen werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Die Fouls an Uwe Seeler und Franz Beckenbauer waren klare Elfmeter, wenigstens einen davon hätte er geben müssen. Er hat einfach weiterspielen lassen. Ein Wahnsinn! Wir hätten das Spiel schon in der regulären Spielzeit gewonnen.
War dieses 3:4 dennoch das Spiel Ihres Lebens? Trotz der bitteren Niederlage?
Von der Dramatik her, ja. Ich wusste in der Verlängerung teilweise gar nicht mehr, wie es steht, musste nach oben auf diese hölzerne Anzeigetafel des Aztekenstadions schauen. Nicht unbedingt mein bestes, auf jeden Fall aber mein wichtigstes Spiel war die Wasserschlacht von Frankfurt, das Halbfinale bei der WM 1974 gegen Polen (1:0, d. Red.). Dazu die zweite Halbzeit des WM-Endspiels von München, als wir das 2:1 gegen die Holländer über die Runden gebracht haben – beide Male habe ich gut gespielt, und wir haben gewonnen. Da hat alles gepasst.
Sie wurden Weltmeister, in Deutschland, in München. Ihr größter Triumph, Ihr wertvollster Titel?
Der Druck war immens hoch, weil wir zwei Jahre zuvor Europameister geworden waren. Nach der schwierigen Gruppenphase haben uns die Zuschauer mehr und mehr gepusht. Bundestrainer Schön hatte als Stamm eine feste Gruppe von 16, 18 Spielern, die sich auch mal eine schlechte Phase im Verein erlauben konnten. Diese Spieler hat Schön dann trotzdem wieder eingeladen.
Wie blicken Sie generell auf Ihre Zeit in der Nationalmannschaft zurück?
In meinen 13 Jahren ab 1966 hatte ich eine tolle, sehr erfolgreiche Zeit. Der WM-Titel 1974 steht natürlich über allem, dazu kommt der Gewinn der EM 1972. Dass ich das WM-Halbfinale von Mexiko 1970 und das EM-Finale 1976 gegen die Tschechoslowaken jeweils so unglücklich verloren habe – ja, mei, das gehört dazu. Wichtig aber war vor allem eines: Als Spieler haben wir uns jedes Mal gefreut, wenn wir eine Einladung zu einem Lehrgang und zu den Spielen erhalten haben. Für mich, für uns alle, war die Nationalmannschaft damals etwas ganz Besonderes. Wenn wir Bayern-Spieler die Gladbacher mit Netzer, Bonhof und Vogts oder die Kölner mit Overath, Flohe und Cullmann oder die Frankfurter mit Grabowski und Hölzenbein wiedergesehen haben, waren die Animositäten aus der Bundesliga vergessen. Wir haben gute Gespräche geführt, konnten uns über ver-chiedene Dinge austauschen. Dabei half, dass Helmut Schön mit seiner ruhigen, sympathischen Art wie ein Vater für uns war. Deshalb haben wir uns im Kreis der Nationalelf stets wohlgefühlt.
Wie schauen Sie heute auf den 14. Juli 1979 zurück, den Tag Ihres schweren Autounfalls? Nach einem Wolkenbruch gerieten Sie mit Ihrem Auto auf der vom Regen überfluteten Fahrbahn ins Schleudern, kollidierten mit einem entgegenkommenden Wagen.
Es ist zwar jetzt schon 45 Jahre her, aber immer noch stark präsent. Das lässt mich nicht mehr los. Ich hatte Riesenglück und mit Uli Hoeneß einen Schutzengel, der mir das Leben gerettet hat. Auf eigene Verantwortung ließ er mich aus dem kleinen Ebersberger Kreiskrankenhaus, das am Wochenende nur notdürftig besetzt war, ins Klinikum Großhadern nach München bringen. Dort entdeckte man bis zu drei Liter Blut in meinem Körper, es bestand Lebensgefahr. Ich wurde sofort notoperiert, sechs Stunden lang – neben den ganzen Brüchen, der Arm und ein paar Rippen, hatte ich einen Zwerchfellriss erlitten, daher die inneren Blutungen. Ohne den Uli würde ich jetzt nicht hier sitzen.
Ihr vorzeitiges Karriereende als aktiver Profi war es dennoch.
Mein Plan lautete damals, mit 38 Jahren Feierabend zu machen. Die EM 1980 in Italien und die WM 1982 in Spanien hatte ich mir als Ziel gesetzt, vor allem nach der miesen WM 1978 in Argentinien (das DFB-Team scheiterte in der Zwischenrunde unter anderem an Österreich, d. Red.). Ohne den Autounfall hätte ich das auch gepackt.
Ab 1984 haben Sie mit Jean-Marie Pfaff und Raimond Aumann Torwarttraining an der Säbener Straße gemacht, zunächst nur tageweise und ohne Festanstellung. Ab 1994 haben Sie Oliver Kahn zu einem Weltklasse-Torhüter gecoacht. Wie kamen Sie zum Job als Torwarttrainer der Nationalelf?
Damals hatten lediglich die Italiener einen Torwarttrainer. Im November 1987 hat mich der Franz angerufen. Das war dann ab da eine herrliche Zeit. Ich habe meine drei Torhüter trainiert – und fertig. Ansonsten viel Freizeit. Wenn im Training ein Spiel gemacht werden sollte, rief der Franz im Spaß zu mir rüber: „Schick‘ mir zwei von deinen Blinden!“
Welche waren Ihre Highlights der Torwarttrainer-Zeit beim DFB?
Natürlich der WM-Titel 1990 in Italien. Das war die schönste Zeit, wir hatten auch die beste Mannschaft des Turniers – unterm Franz hat eben alles gepasst. Auch mit Berti Vogts hatten wir Erfolg, wurden 1996 in England Europameister, standen zuvor 1992 in Schweden im Finale gegen die Dänen. Vor den Turnieren durfte ich unter Vogts stets über den dritten Torhüter mitbestimmen. Derjenige musste ja menschlich zur Torhüter-Gruppe passen, durfte kein Stinkstiefel sein. Selbst in den Jahren ab 2000 unter Rudi Völler hat ein Rädchen ins andere gegriffen – bis Jürgen Klinsmann dann plötzlich 2004 ganz andere Ideen hatte (mit Andreas Köpke als Nachfolger, d. Red.). Das hat mich sehr enttäuscht. Aber darüber hab‘ ich schon genug gesagt, da will ich jetzt nicht mehr nachkarten.
Mehr als 1.000 Länderspiele, viele Titel, 80 Millionen Fans. Wie haben Sie die Verbindung der Deutschen mit der Nationalmannschaft erlebt? Welche Wahrnehmung haben Sie: Was bedeutet den Deutschen die Nationalmannschaft?
Sehr viel, früher noch mehr als heutzutage. Dadurch war auch der Druck größer als im Verein, weil du als Spieler wusstest, dass nicht nur die Fans der jeweiligen Vereine, sondern im Grunde die ganze Nation vorm Fernseher mitfiebert. Das Miteinander mit den Fans und den Medien war damals enger, familiärer. Die Nationalspieler wurden akzeptiert. Zwischen der Presse und den Spielern herrschte ein gutes Miteinander, man hat sich gegenseitig respektiert. Das ist bei dem riesigen Medienaufkommen in der heutigen, so schnelllebigen Zeit teilweise gar nicht mehr möglich.
Wie blicken Sie auf die aktuelle Nationalmannschaft?
Wieder sehr positiv, die Entwicklung unter Julian Nagelsmann ist sehr erfreulich. Vor der Heim-EM habe ich ehrlicherweise eher schwarzgesehen nach den Leistungen im Herbst 2023 – das war ja zum Teil nicht mehr zu ertragen! Doch nun begeistern vor allem Jamal Musiala und Florian Wirtz die Menschen im Lande wieder mit ihrem Offensivfußball. Wir haben eine tolle Mannschaft, tolle Talente. Schön wäre es, wenn jetzt noch ein Titel herausspringen würde. Ich denke, bei der WM 2026 könnte was gehen. Wir waren doch achtmal in einem WM-Finale, haben nur vier davon gewonnen. Die Bilanz ist ausbaufähig. (lacht) Dann könnten wir zu den Brasilianern mit ihren fünf WM-Titeln aufschließen. Vielleicht können sie den Mythos der deutschen Turniermannschaft wieder aufleben lassen. Wie wir früher. In den Jahren dazwischen haben wir nicht so besonders gespielt, aber im Turnier waren wir immer da!
INTERVIEW Patrick Strasser
EXPONATE DFB-Archiv (5), Deutsches Fußballmuseum, Wim Rijsbergen, Bernard Dietz, Frank Farian/Ingrid Segieth
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